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Rückwirkendes Arztzeugnis bei Kündigung

Kann heute überhaupt noch eine Kündigung ausgesprochen werden, ohne dass der Mitarbeiter anschliessend ein Arztzeugnis schickt? Selten. Sehr selten. 

 

Lass uns heute ein konkretes Fallbeispiel und die rechtlichen Möglichkeiten zusammen anschauen.

 

Rückwirkendes Arztzeugnis nach der Kündigung: ein Beispielfall

Ein Mitarbeiter fällt wegen Rückenschmerzen vom 20. Mai bis am 30. Juni 2025 aus. Am 1. Juli 2025 fängt er wieder an zu arbeiten. 

 

Der Mitarbeiter hat zwei Monate Kündigungsfrist, befindet sich im zweiten Dienstjahr und hat somit einen Sperrfristschutz von 90 Tagen. Das Personalreglement verlangt bei einer Kündigung zwingend die Schriftlichkeit. 

 

Die Arbeitgeberin erklärt dem Mitarbeiter am 14. Juli 2025 mündlich, dass sie ihm aus wirtschaftlichen Gründen wird kündigen müssen. 

 

Der Mitarbeiter verlangt am Gespräch umgehend ein Zwischenzeugnis, kommt weiter zur Arbeit und klagt nicht über Schmerzen.

 

Am 22. Juli 2025 kündigt die Arbeitgeberin wie angesprochen das Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der geltenden 2-monatigen Kündigungsfrist schriftlich per 30. September 2025 und übergibt dem Mitarbeiter das Zwischenzeugnis.  

 

Am 25. Juli 2025 schickt der Mitarbeiter ein Arztzeugnis, datiert vom 16. Juli 2025, das eine  Arbeitsunfähigkeit rückwirkend ab 16. Juli 2025 bis 30. September 2025 bescheinigt. 

 

Du weisst, dass dein Mitarbeiter noch eine Zweitanstellung hat. Von anderen Mitarbeitern weisst du, dass er dort trotz angeblicher Rückenschmerzen bereits während seiner ersten Krankschreibung weitergearbeitet hat. 

 

Was tust du? 

 

Rechtslage

Zunächst einmal: Die «Kündigung» vom 14. Juli 2025 ist nicht gültig, da sie nur mündlich erfolgt ist, das Personalreglement aber Schriftlichkeit verlangt. 

 

Das ist dann auch schon alles, was du sicher weisst. Ob die schriftliche Kündigung vom 22. Juli 2025 gültig ist, ist rechtlich eine heikle Frage, weil unklar ist, ob der Mitarbeiter zu diesem Zeitpunkt tatsächlich krank war bzw. als krank galt. Denn Krankheit löst eine Sperrfrist aus und während der Sperrfrist ausgesprochene Kündigungen sind nichtig (ungültig). 

 

Der Arztbesuch erfolgte am 16. Juli 2025. Zum Zeitpunkt der schriftlichen Kündigung war der Mitarbeiter also bereits krankgeschrieben. 

 

Doch hat der Mitarbeiter nicht dadurch, dass er trotzdem und ohne Klagen gearbeitet hat, eben gerade die attestierte Arbeitsunfähigkeit widerlegt? Der Zeitpunkt der Arztkonsultation direkt nach mündlicher Ankündigung der Kündigung spricht ebenfalls dafür, dass das Arztzeugnis bloss der Vereitelung der Kündigung dienen sollte. 

 

Die Frage, ob dieses rückwirkende Arztzeugnis gültig ist oder nicht, ist rechtlich nicht klar. Doch damit nicht genug. Es ist auch unklar, ob ein Teil der Sperrfrist bereits abgelaufen ist oder nicht. Wie kann das sein?

 

Der Mitarbeiter hat sich zwei Mal aufgrund von Rückenschmerzen krankschreiben lassen. Zum ersten Mal vom 20. Mai bis am 30. Juni 2025. Zum zweiten Mal vom 16. Juli bis am 30. September 2025. 

 

Es ist höchstrichterlich bisher nie geklärt worden, ob ein Mitarbeiter, der wegen Krankheit eine bestimmte Zeitlang arbeitsunfähig war, dann vorübergehend wieder voll arbeitete und dann wegen der gleichen Ursache erneut arbeitsunfähig wurde (Rückfall), Anspruch auf eine neue Sperrfrist ab dem Rückfall hat oder ob die beiden Perioden der Arbeitsunfähigkeit wegen der gleichen Ursache kumuliert werden dürfen und somit zum Zeitpunkt der Kündigung ein Teil der Sperrfrist bereits abgelaufen ist. 

 

Vermutlich kann man zum Schluss kommen: Je kürzer die Arbeitsphase zwischen den beiden Ausfällen, desto eher darf kumuliert werden. Doch selbst wenn ein Gericht in unserem konkreten Fall zu diesem Schluss käme, ist das nichts, woran du dich auch zukünftig festhalten kannst. Jeder nachfolgende, ähnlich gelagerte Fall müsste wieder einzeln abklärt und beurteilt werden.  

 

Was hast du nun für Möglichkeiten? Als Erstes: Du rechnest. 

 

Die möglichen rechtlichen und finanziellen Konsequenzen

Und zwar denkst du die Konsequenzen durch, die alle jetzt möglichen Szenarien haben können. 

 

Fakten für die Berechnung: 

  • 2 Monate Kündigungsfrist
  • 90 Tage Sperrfrist
  • Fehlzeit vor der Kündigung aufgrund derselben Ursache: 42 Tage (20. Mai bis 30. Juni 2025)

Unklar ist:

  • Ob die schriftliche Kündigung gültig ist.
  • Ob derzeit überhaupt eine Arbeitsunfähigkeit besteht und wenn ja, seit wann.
  • Ob die Fehlzeiten vor und nach der Kündigung zusammengezählt werden dürfen oder nicht. Wenn ja, dauert die Sperrfrist nur noch 48 Tage (da 42 bereits vor der Kündigung abgelaufen). Wenn nein, dauert die Sperrfrist noch volle 90 Tage. 
  • Ab wann die (restliche) Sperrfrist zu laufen beginnt (da Arbeitsunfähigkeit unklar). 

 

Annahme 1: Kündigung ist gültig mit einer Sperrfrist von 90 Tagen ab 23.07.2025

  • Kündigung am 22.07.2025
  • Sperrfristende = 20.10.2025 (90 Tage später)
  • Beginn Kündigungsfrist am 01.10.2025, da Krankschreibung nur bis am 30.09.2025
  • Vertragsende = 30.11.2025 (2 Monate später, nach Ablauf der Kündigungsfrist)
  • Würde sich der Mitarbeiter auch im Oktober noch krankschreiben lassen (womit in unserem Fall sicher zu rechnen ist), würde die Kündigungsfrist am 21.10.2025 zu laufen beginnen und am 19.12.2025 ablaufen, woraufhin sich das Vertragsende auf den 31.12.2025 hinausschieben würde. 

 

Annahme 2: Kündigung ist gültig mit einer Sperrfrist von 48 Tagen ab 23.07.2025

  • Kündigung am 22.07.2025
  • Sperrfristende = 08.09.2025 (48 Tage später)
  • Beginn Kündigungsfrist am 09.09.2025
  • Vertragsende = 30.11.2025 (2 Monate nach Beginn der Kündigungsfrist mit Hinausschiebung auf das Ende eines Monats)

 

Annahme 3: Kündigung ist ungültig mit einer Sperrfrist von 90 Tagen ab 16.07.2025

  • Sperrfristende = 13.10.2025 (16.07.2025 bis 13.10.2025 = 90 Tage)
  • Gültig kündigen am 01.10.2025 (falls Mitarbeiter nicht mehr krank) oder am 14.10.2025 (falls Mitarbeiter immer noch krank)
  • Vertragsende = 31.12.2025 (egal, ob die Kündigung am 01.10.2025 oder am 14.10.2025 ausgesprochen werden konnte)

 

Annahme 4: Kündigung ist ungültig mit einer Sperrfrist von 48 Tagen ab 16.07.2025

  • Sperrfristende = 01.09.2025 (16.07.2025 bis 01.09.2025 = 48 Tage)
  • Gültig kündigen am 02.09.2025 
  • Vertragsende = 30.11.2025 (2 Monate nach Beginn der Kündigungsfrist mit Hinausschiebung auf das Ende eines Monats)

 

In jedem möglichen Szenario ist dein Mitarbeiter also entweder noch bis am 30.11.2025 oder bis am 31.12.2025 auf deiner Lohnliste.

 

Wählst du die sichere oder die unsichere Variante?

Wenn du die totale Rechtssicherheit willst, dann gehst du jetzt davon aus, dass das Arztzeugnis gültig ist, die Kündigung somit ungültig und dass die Sperrfrist 90 Tage beträgt. Du sprichst die Kündigung nach Ablauf der Sperrfrist erneut aus und das Vertragsverhältnis endet somit am 31.12.2025.

 

Wenn du nicht bereit bist, einfach alles zu schlucken, was man dir nachträglich so auftischt, hast du noch folgende Möglichkeiten:

 

Möglichkeit 1: Arbeitsunfähigkeit nicht akzeptieren und zum Vertrauensarzt schicken

 

Du kannst dem Mitarbeiter umgehend schriftlich mitteilen, dass du die mittels Arztzeugnis bescheinigte Arbeitsunfähigkeit nicht akzeptierst, da er ja gearbeitet hat. Somit war der Mitarbeiter aus deiner Sicht zum Zeitpunkt des Empfangs der schriftlichen Kündigung arbeitsfähig und du gehst von der Rechtsgültigkeit der Kündigung aus. Parallel dazu bietest du den Mitarbeiter zu einem Termin beim Vertrauensarzt auf (geht zu deinen Lasten), da du auch Zweifel an der weiteren (also aktuellen) Arbeitsunfähigkeit hast. 

 

Ohne Gegenwehr des Mitarbeiter ist die Kündigung somit gültig und der Vertrauensarzt klärt die Frage, ob aktuell eine Arbeitsunfähigkeit besteht und bis wann. Je nachdem kommt dann die Sperrfrist zum Tragen oder nicht. 

 

Sollte der Mitarbeiter den Rechtsweg einschlagen wollen, kommt der Fall vor die Schlichtungsbehörde. Alle arbeitsrechtlichen Verfahren starten mit einem Schlichtungsgesuch. Kommt keine Einigung zu Stande, wird die Klagebewilligung ausgeteilt für das erstinstanzliche Verfahren. Das Schlichtungsverfahren und das erstinstanzliche Verfahren in arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten ist bis zu einem Streitwert von CHF 30'000 kostenlos; nicht jedoch das zweitinstanzliche Verfahren.

 

Für Gerichtsverfahren gilt allgemein: Die unterliegende Partei trägt die Gerichtskosten und muss der obsiegenden Partei eine angemessene Parteientschädigung zahlen. Zur Parteientschädigung gehören die Anwaltskosten der obsiegenden Partei. 

 

 

Möglichkeit 2: Arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit attestieren lassen

 

Du fragst dich, was der Mitarbeiter für Beweggründe hatte, sich so zu verhalten. Er ist vermutlich sauer, weil er die Kündigung erhalten hat. Dass das Arztzeugnis bis genau am 30.09.2025 ausgestellt worden ist - dem vermeintlichen Vertragsende - deutet darauf hin, dass er einfach bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht mehr zur Arbeit erscheinen möchte und dass dem Mitarbeiter nicht klar ist, dass eine Arbeitsunfähigkeit das Vertragsende hinauszögert. Er hat zudem einen zweiten Arbeitgeber, bei dem er vermutlich weiterhin arbeiten möchte, auch wenn er bei dir krankgeschrieben ist, denn das hat er ja schon bei seiner ersten Absenz so gemacht. 

 

Nun rufst du den Mitarbeiter an und fragst ihn, ob er nur bei dir arbeitsunfähig ist, oder auch bei seinem zweiten Arbeitgeber. Bevor er das Gefühl kriegt, dass dies eine Fangfrage ist, erklärst du ihm, dass du grundsätzlich verstehen kann, wenn er sich nach der Kündigung nicht mehr in der Lage sieht, in deiner Firma zu arbeiten, dass die Arbeitsunfähigkeit aber zwei Dinge auslöst:

  1. Dass er nicht nur bei dir arbeitsunfähig ist, sondern auch bei seinem anderen Arbeitgeber und dass er die Pflicht hat, diesen über seine Arbeitsunfähigkeit zu informieren.
  2. Dass sich wegen der Arbeitsunfähigkeit bzw. der Sperrfrist, die dadurch ausgelöst wird, das Vertragsende hinauszögert.

Daher schlägst du Folgendes vor: Damit er bei seinem zweiten Arbeitgeber ohne Probleme weiterarbeiten kann, muss er sich die Absenz als arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit attestieren lassen. Was bringt das? 

 

Laut Bundesgericht fällt der Sperrfristenschutz bei einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich dahin, wenn ein ärztliches Attest diesen Sachverhalt bestätigt. Spätestens ab dem Zeitpunkt dieses medizinischen Befunds fällt der Sperrfristenschutz weg. Sobald ein entsprechendes Arztzeugnis vorliegt, kann anschliessend das effektive Vertragsende berechnet werden.

 

Der Fall muss übrigens dennoch der Krankentaggeldversicherung gemeldet werden. Sobald eine Krankentaggeldversicherungslösung vertraglich vereinbart worden ist (beispielsweise im Personalreglement), muss jeder Fall auch der Versicherung gemeldet werden. Du kannst also nicht einfach die Lohnfortzahlung selbst berappen und den Fall der Versicherung vorenthalten. Denn der Mitarbeiter hat grundsätzlich ein Anrecht auf die Taggelder. Sie mögen zwar an dich ausbezahlt werden, aber du musst sie anschliessend mit dem Lohn verrechnen. So gibst du sie indirekt an den Mitarbeiter weiter, der dann davon profitiert, dass er dadurch weniger Sozialversicherungsabzüge hat. 

 

Möglichkeit 3: Vertragsauflösung in gegenseitigem Einvernehmen anbieten

 

Wenn es dir wichtig ist, dass deine Krankentaggeldversicherung nicht belastet wird, hast du noch die Möglichkeit, dem Mitarbeiter eine Vertragsauflösung in gegenseitigem Einvernehmen anzubieten. 

 

Der Abschluss einer Aufhebungsvereinbarung ist jederzeit möglich, also auch während einer laufenden Arbeitsunfähigkeit des Mitarbeiters. Wichtig ist, dass der Mitarbeiter die Aufhebungsvereinbarung freiwillig unterzeichnen muss und dass er für die Unterzeichnung eine angemessene Bedenkfrist hat. Du darfst dem Mitarbeiter also ein Angebot machen, aber du darfst ihn nicht unter Druck setzen, es anzunehmen. 

 

Da der Mitarbeiter mit dem Abschluss eines Aufhebungsvertrags auf Schutzrechte verzichtet (Sperrfristschutz und damit verbundene Lohnfortzahlung), verlangt das Bundesgericht einen Interessensausgleich zugunsten des Mitarbeiters. Das bedeutet: Die Annahme des Aufhebungsvertrags muss durch ein vernünftiges Interesse des Mitarbeiters gerechtfertigt sein.

 

Findet ein solcher Interessensausgleich statt, dürften die Chancen für eine erfolgreiche Anfechtung der Gültigkeit des Aufhebungsvertrags im Nachhinein äusserst gering sein.  

 

In der Praxis bieten die meisten Arbeitgeber dann eine Freistellung mit 100 % Lohnfortzahlung an. Das funktioniert natürlich nur, wenn du bei Arbeitsunfähigkeit normalerweise nur 80 % Lohnfortzahlung leistest.

 

Welche Arten der Vertragsauflösung es gibt, welche Folgen die verschiedenen Varianten haben und warum du meiner Meinung nach die Lohnfortzahlung auf 80 % setzen solltest, beantworte ich dir im Artikel: Arten der Vertragsauflösung - mit und ohne Freistellung